Lockdown für Lohnarbeit statt Ausgangssperre

LOS! unterstützt den offenen Brief:

Lockdown für die Lohnarbeit statt Ausgangssperre!
Offener Brief an Menschen, die von Ausgangssperren betroffen sind.

Ab Samstag, den 12.12. herrscht in der Stadt Offenbach, im angrenzenden Main-Kinzig-Kreis und dem Kreis Offenbach, sowie in einigen weiteren Regionen Deutschland eine Ausgangssperre – das bedeutet, dass Menschen sich nach 21 Uhr und vor 5 Uhr morgens nicht mehr “ohne triftigen Grund” (triftige Gründe sind dabei durch Seiten der Verantwortlichen festgelegt worden; sie zählen dazu z.B. das Begleiten Sterbender, der ‘ehrenamtliche’ Einsatz im Katastrophenschutz oder der Weg von oder zur Lohnarbeit, wie bspw. von oder zur Nachtschicht) außerhalb ihrer Wohnungen bewegen dürfen. Grund dieser Maßnahmen sind die steigenden Fallzahlen von Covid19-Infektionen in Offenbach sowie einem damit einhergehenden Anstieg der im Zusammenhang mit einer Covid19-Infektion Sterbenden und die Überlastung der angrenzenden Krankenhäuser.

Wir sind keine Corona-Rebell*innnen, Corona-Leugner*innen, Querdenker*innen oder Menschen die an Verschwörungserzählungen glauben.
Wir grenzen uns klar von den Leuten ab, die unter anderem am Samstag, den 12.12. zur großen Querdenken-Demo nach Frankfurt mobilisiert haben und gegen die wir uns auf die Straße bzw. die brechend vollen Frankfurter Einkaufsmeilen gestellt haben.
Wir sind für einen solidarischen Umgang in der Pandemie und Aufklärung.
Wir halten das Tragen von Masken, das Einhalten von Abständen, eine Reduzierung von Kontakten und das Vermeiden von großen Gruppenzusammenkünften für sinnvoll.
Wir wollen uns gegenseitig helfen, unterstützen und solidarisch durch diese Krise kommen, die für uns eine von vielen Krisen in diesem schon so lange kaputten kapitalistischen System ist, das uns, unsere Beziehungen und unsere Umwelt zerstört.
Wir leugnen nicht die Gefahr, die vom Virus ausgeht und wir haben ein Interesse daran, ein Leben nach der Pandemie nicht nur zu erleben, sondern auch es anders als das Krisenhafte davor zu gestalten.

Wir kritisieren die Maßnahme der Ausgangssperre scharf. Das Verbot, sich nach einer gewissen Uhrzeit im öffentlichen Raum bewegen zu dürfen und die Auflage in der Wohnung bleiben zu müssen, ist eine Maßnahme im Repertoire eines immer stärker werdenden autoritären, rassistischen und neoliberalen Staates.
Die massiven Einschränkungen unserer Freiheitsrechte stehen mit den erhofften Ergebnissen dieser Einschränkungen in keinem Verhältnis. Wir glauben nicht, dass eine Ausgangssperre, die sich über die Nacht zieht, in einer Zeit, in der sich viele Menschen ohnehin schon in ihren vier Wänden aufhalten und die Straßen in Offenbach nahezu menschenleer sind, die Infektionsfallzahlen verringern wird.

Das Zuhause nur noch verlassen zu dürfen, um (in vollen öffentlichen Verkehrsmitteln und im Gedränge von S-, U-Bahn, Zug und Straßenbahn) zur Arbeit zu fahren oder den ganzen Tag sich im schlecht ausgestatteten Home-Office und mit zusätzlicher Kinderbetreuung abzuquälen, ist noch gestattet – sich davon aber erholen zu wollen, mit Freund*innen, Familienmitgliedern, Kindern oder anderen draußen zu sein, einen Spaziergang in kleinen Gruppen zu unternehmen oder sich nach der Arbeit kurz draußen auf ein Feierabendgetränk zu treffen, ist im Zuge dieser Maßnahme unmöglich geworden.
Die Ausgangssperre zielt als Maßnahme explizit auf den privaten Raum,und das wird beispielsweise von Felix Schwenke, Offenbacher Oberbürgermeister (SPD) auch ganz offen so kommuniziert.

Sozialität, das Bedürfnis, andere Menschen zu sehen und mit ihnen in Kontakt zu kommen, die Grundlage unseres menschlichen Zusammenseins wird hier explizit und als solches zu verhindern versucht. Arbeiten gehen und alles, was dafür notwendig ist, wird weiterhin erlaubt sein – Reproduktion, Muße, Entspannung, Erholung, gemeinsam mit anderen sein und Beziehungen pflegen und aufbauen und all das, was uns von Arbeitsmaschinen unterscheidet, wird verboten. Während die Schutzmaßnahmen auf dem Weg zur Lohnarbeit und während der Lohnarbeit in vielen Fällen lax gehandhabt werden, steigt der Druck auf das Sozialleben, das seit Beginn der Pandemie ohnehin schon eingeschränkt ist. Es wird immer deutlicher, dass wir zwar arbeiten sollen, uns aber nicht mehr gemeinsam entspannen und ausruhen dürfen!

Der Grund, warum “die meisten Infektionen im privaten Raum” stattfinden, hat jedoch auch andere Ursachen. Durch die Ausgangssperre wird suggeriert, dass damit private Begegnungen von unsolidarischen und/oder unverständigen Menschen unterbunden werden können, die sich “schlicht nicht an die Regeln halten”. Dies lässt die Komplexität des Infektionsgeschehens und vor allem dessen soziale Seite außer Acht. Diese Pandemie trifft eben – verdammt noch mal – nicht alle gleich: sie trifft insbesondere die, die ohnehin schon unter prekären Bedingungen leben und arbeiten müssen! (Es ist kein Zufall, dass Offenbach in der sog. ersten Welle (als Infektionen noch bis zu den Ski-Urlauber*innen aus Ischgl zurück verfolgt werden konnten) von der Pandemie weniger stark betroffen war, als nun in der sog. zweiten Welle.)

Wo Wohnraum hochpreisig und mit viel Platz am Hafen gebaut wird, finden andere, z.B. wohnungslose Personen, von patriarchaler Gewalt betroffene Frauen*, (jugendliche) Queers und Kinder – eben keinen Platz mehr, insbesondere dann, wenn die Ausweichmöglichkeit im öffentlichen Raum durch die Schließung von Sozialeinrichtungen, Jugendzentren und anderen Treffpunkten wie Sportvereinen und Sportplätze bereits massiv eingeschränkt sind.
Corona-Infektionen finden daher statt, weil die verfehlte Wohnraumpolitik auch der Stadt Offenbach dazu führt, dass viele Menschen und Familien auf engstem Raum und unter schwierigen Bedingungen wohnen müssen, dass Arbeiter*innen sich häufig mit vielen anderen ein Zimmer, z.T. mit Stockbetten teilen und somit Abstand halten kaum möglich ist.

Die Ausgangssperre ist daher gleichermaßen eine brutale Maßnahme gegen die, die kein “gutes” oder eben gar kein Zuhause haben. Sie nimmt billigend die Repression in Kauf, die Menschen erfahren, die kein Zuhause haben oder für die das Zuhause keinen sicheren Ort darstellt.
Sie ist gleichermaßen auch ein Schlag ins Gesicht derer, die eh schon das Gefühl haben, dass ihnen die Decke auf den Kopf fällt, die seit März eh schon einsam(er) geworden sind; Ältere, Kranke und Personen mit Suchtproblemen und seelischen Leiden, die aus ihren eigenen vier Wänden kaum noch rauskommen.

Was geschieht im Zuge der Ausgangssperre?
Eine Ausgangssperre zieht ordnungspolitische, aber keinerlei sozialpolitische Maßnahmen nach sich. Kurz: sie ist ein Freifahrtschein für noch mehr rassistische Polizeikontrollen, Verdrängung derer, die eh schon am Rand der Gesellschaft leben und ein Grund, warum noch mehr nach “Freiwilligen im Polizeidienst” oder generell nach mehr Personal innerhalb der Polizei- und Ordnungskräfte gerufen wird.
Eine Ausgangssperre schafft jedoch keinen qm mehr Wohnraum oder auch nur einen Platz im Frauenhaus mehr. Sie löst kein einziges politisches Problem, das zuvor verschlafen, verschoben oder absichtlich zur Seite gelegt wurde. Im Gegenteil: sie verschärft das, was vorher schon beschissen war. Patriarchale Gewalt und die physischen und psychischen Folgen davon, Femizide und die psychischen Folgen von Einsamkeit und Isolation sind bereits gestiegen und werden durch die Ausgangssperre noch massiver steigen. Diese sozialen Kosten werden die “wirtschaftlichen Kosten” dieser Pandemie bei weitem übertreffen.
Der Beschluss der Einführung einer Ausgangssperre ist damit auch ein Armutszeugnis einer Stadt und ihrer politischen Führung.

Beschlossen wird diese Maßnahme von einem Krisenstab der Stadt Offenbach, der zu großen Teilen weiß, cis-männlich, vermutlich heterosexuell und in romantischen Zweierbeziehungen lebt (ebenso wie der Wissenschaftsrat der “Leopoldina”, der diese Maßnahmen ebenso befürwortet) und in Wohngegenden und Neubaugebieten wohnt, in denen für Autos insgesamt mehr Platz vorgesehen ist, als der Wohnraum mancher Wohnungen in der Offenbacher Innenstadt umfasst. Auch hier wird deutlich, dass die Pandemie uns nicht alle gleich trifft.

Wir fordern daher die Verantwortlichen der Stadt Offenbach dazu auf,

  • sich endlich und eingehend mit den sozialen Folgen der Pandemie zu beschäftigen und die Ursachen der prekären Lebenslagen zu bekämpfen! Dazu gehört auch, die soziale Infrastruktur für Menschen in prekären Lebenslagen auszubauen und langfristig zu finanzieren.
  • Hotels müssen für Geflohene, Wohnsungslose und Menschen, die von patriarchaler Gewalt betroffen sind, geöffnet werden.
  • Wir fordern eine Erhöhung der Frauenhausplätze um 100% und die Öffnung dieser Schutzräume für von patriarchaler Gewalt betroffene Queers, Nicht-Binäre und Trans-Personen, sowie für Menschen,die sich nicht innerhalb der binären Geschlechterordnung verorten.
  • Wir fordern, die Ausgangssperre aufzuheben und die Plätze der Stadt Offenbach (Wilhelmsplatz, Marktplatz, Hafenplatz und Hafentreppe, Parkplätze am Main) sowie die Hauptverkehrsadern der Stadt (Berliner Straße, Kaiser- und Waldstraße) autofrei zu machen und dort pandemie-konforme Begegnungen von Menschen draußen, barrierefrei, mit Abständen und mit Mund-Nase-Bedeckung und kostenlosen Heißgetränken auch nach 21 und vor 5 Uhr, sowie am Wochenende zu ermöglichen.

Das Fundament der Ausgangssperre ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit und Care-Work, eine Hierarchisierung der Lohnarbeit über das Soziale Leben.
Es ist aber nicht unsere Arbeit, die uns lebendig macht, sondern es ist unser Zusammensein und unsere Beziehungen zueinander! Soziale und reproduktive Zusammenhänge werden immer wieder – und so auch in dieser Pandemie – abgewertet. Daher fordern wir:

Lockdown für die Lohnarbeit, statt Ausgangssperre!

Erstunterzeichner*innen
Linke Einzelpersonen aus Offenbach
LOS! Offenbach Solidarisch
Beta.KollektivGut.Kiosk
FAO Feministisch Antifaschistisch Offenbach
AK069 Antifaschistisches Kollektiv 069
 

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